Sucht: Das Loch und der verzweifelte Versuch der Heimkehr

Sucht und was sie in Wahrheit ist.

Ist sie Schwäche? Gier? Krankheit?
Ein Mangel an Disziplin?
Oder nur der Versuch, nicht zu fühlen, was längst da ist?

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Sucht ist kein Feind. Sie ist der Beweis, dass du noch fühlst, auch wenn du glaubst, dich betäuben zu müssen. Denn du flüchtest nicht, weil du schwach bist. Du flüchtest, weil du vergessen hast, wie es war, da zu sein.

Sucht ist nicht Gier, nicht Schwäche, nicht Krankheit. Sucht ist Flucht, nicht vor der Welt, sondern vor dir selbst. Du flüchtest nicht, weil du süchtig bist. Du bist süchtig, weil du flüchtest.

Sucht ist ein unbewohntes Haus. Du kannst es möblieren mit Designerstücken, Erfolgen, Rollen, Likes, mit Plänen, Sport, Geld oder spirituellen Ritualen. Aber wenn du selbst nicht da bist, bleibt alles leer. Jede Ersatzdroge ist nur ein Möbelstück in einem Raum ohne Leben.

Am Anfang fühlt es sich an wie Erleichterung: der Moment, in dem etwas nachlässt, das du nicht einmal benennen kannst. Du isst, trinkst, scrollst, kaufst, schreibst. Du jagst keinem Hochgefühl hinterher, du entkommst einem Tief, das längst da war. Doch was du dabei vermeidest, ist nicht der Stoff. Es ist das Fühlen. Der Körper, der atmet. Die Leere, die drückt. Die Wunde, die brennt. Was du betäubst, ist kein Mangel an Dopamin, sondern der Schmerz, dich selbst nicht mehr zu spüren.

Sucht entsteht nicht, weil etwas fehlt. Sucht entsteht, weil du fehlst. Weil du dich selbst verlassen hast. Weil du irgendwann aufgehört hast, da zu sein für dich, um zu funktionieren, zu genügen, nicht zu stören. In den ersten sieben Jahren wurde ein Programm über dich gelegt: Sei brav. Sei nützlich. Sei anders. Und so wurde dein eigentliches Selbst verschüttet, unter Erwartungen, Scham, Schuld und Masken. Das war der Moment, in dem das Haus leer wurde. Dein innerstes Haus. Du hast es verlassen, weil du geglaubt hast, du wärst falsch. Seitdem suchst du. Seitdem greifst du nach allem, was dich vergessen lässt, dass du fehlst.

Viele glauben, Sucht endet, wenn sie das Verhalten ändern: Alkohol weglassen, Zucker streichen, Digital Detox machen. Sie führen Listen, zählen Schritte, kontrollieren Kalorien. Doch das ist kein Erwachen. Das ist ein Korsett. Kein Verhalten heilt. Nur Erinnerung.

Du brauchst keinen Entzug. Du brauchst eine Heimkehr. Heimkehr heisst nicht, dich zu optimieren. Heimkehr heisst, dich wieder zu bewohnen. Dich zu fühlen. Dich halten zu können, mit allem, was du bist. Auch mit dem, was schmerzt. Gerade mit dem, was du nie fühlen wolltest.

Und dann gibt es noch die subtile Sucht , jene, die nicht auffällt: die Sucht nach Harmonie, nach Applaus, nach der nächsten Nachricht, nach Kontrolle, nach Funktion, nach einem perfekten Ich, das nie schwach ist, nie leer, nie echt. Auch das ist Sucht. Nicht sichtbar, aber spürbar. Denn du spürst, dass du dich verloren hast. Und wenn du lange genug flüchtest, verlierst du irgendwann das, was du am meisten suchst: dich selbst.

Du wirst nicht zerstört vom Konsum. Du wirst zerstört von der Flucht vor dem, was du fühlen würdest, wenn du nichts mehr konsumierst. In dieser Leere liegt dein Eingang. Dort, wo es dunkel und haltlos scheint, wartet kein Abgrund, sondern der Weg zurück.

Du bist nicht das Loch. Du bist das Licht darin.

Das ist der Punkt, an dem du dich nicht mehr betäubst, sondern beginnst, dich zu erinnern.

Du bist nicht süchtig, weil etwas in dir krank ist. Du bist süchtig, weil du in der Tiefe heil bist, aber diesen Teil vergessen hast. Deshalb ist es so gefährlich, sich einzureden: „Ich bin süchtig.“ Denn das bist du nicht. Du bist kein Etikett, keine Diagnose, kein Fall. Du bist nicht gestört, du bist programmiert. Und was programmiert wurde, kann erinnert, erkannt und verwandelt werden. Nicht mit Willenskraft. Nicht mit Therapieplänen. Sondern mit Wahrheit, mit deiner Bereitschaft, zu fühlen, wo du dich selbst verlassen hast und zurückzukehren.

In Wahrheit ist Sucht kein Gegner. Sie ist ein Wegweiser. Sie zeigt dir, wo du nicht mehr wohnst. Sie zeigt dir, dass du gefehlt hast. Und wenn du das aushältst, wenn du stehen bleibst, statt wieder zu flüchten, beginnt etwas in dir zu leuchten. Nicht laut, nicht sofort aber echt.

Du warst immer das, was fehlt. Erinnere dich. Du musst nichts füllen. Du musst nur zurückkommen, in dein Haus, in deinen Thronsaal, in dich.

Vielleicht liest du dies und erinnerst dich:
Du bist nicht das Loch. Du bist das Licht darin.
Wenn du dich erinnern willst, begleite ich dich, nicht um dich zu retten, sondern damit du zurückkehrst, wo du nie verloren warst,

– Elisa Suter