Ein Zuhause ohne Schlüssel – Wenn Kinder flügge werden
Du bist nicht das Netz. Du bist das Haus.
Mutterschaft. Und was es nie war.
Ist Muttersein Kontrolle?
Ein Kind formen, damit es funktioniert?
Erwarten, belohnen, bestrafen?
Es in Watte packen, damit es nie stolpert?
Oder ist es etwas anderes; stiller, tiefer, wahrer?
***
Raum lässt leben. Kontrolle tötet.
Kontrolle ist kein Halt, sondern der Todesstoss.
Sie macht klein, eng, starr. Sie erstickt den Atem, aus dem Leben wächst.
Ein gesunder Raum nährt. Er hält lebendig. Er ist der Boden, auf dem ein Kind stehen und wachsen kann.
Eine wahre Mutter ist kein Netz, das fesselt. Keine Spinne, die Fäden zieht und Kinder in ihrem eigenen Gewebe festhält.
Sie baut weder Fangnetz noch Sicherheitsnetz.
Eine wahre Mutter ist ein Haus.
Ein gesundes Haus, das für sich selbst steht, mit Dach, das trägt, mit Fenstern, die leuchten, mit einem Feuer, das wärmt.
Kinder wachsen zuerst im Mutterkuchen, geborgen im Leib und später auf der Mutter Erde, die sie trägt. Auch im Leben brauchen sie wieder genau das: einen Raum, der Halt gibt, ohne zu fesseln. Eine Mutter ist dieser Raum. Sie ist das Haus, das da ist. Die Erde, die nährt.
In diesem Haus wirst du nicht bewertet. Nicht zurechtgebogen. Nicht zu einer Ware gemacht.
Hier darfst du dich selbst entdecken. Atmen. Wachsen.
Raum sein heisst auch: da sein, wenn ein Kind in Not gerät.
Aber nicht sofort retten wollen. Nicht den Schmerz abnehmen.
Sondern bleiben. Aushalten. Vertrauen.
Denn jedes Kind wird irgendwann erkennen, nicht dass der Schmerz gut war, aber dass auch er zu etwas diente. Dass er half, stärker zu werden, klarer, tiefer.
Eine Mutter, die Raum ist, weiss: auch in der Dunkelheit trägt ihr Kind sein eigenes Licht.
Weil sie es selbst erfahren hat. Weil sie selbst entschieden hat, zu leuchten.
Doch viele Häuser sind krank. Manche Türen verriegelt, die Fenster verdunkelt, das Feuer längst erloschen. Kinder lernen dort: Nähe macht verletzlich. Gesehen wird man nur, wenn man funktioniert. Raum nur, wenn man sich anpasst.
Andere Häuser sind vollgestellt mit Möbeln, Gerümpel und Erwartungen. Jeder Schritt wird kommentiert, jede Bewegung bewertet. Kinder lernen dort: Mein Platz ist eng. Ich darf nicht ich selbst sein.
So entstehen kranke Programme, eine verzerrte Landkarte im Kopf. Ein Kind glaubt, es müsse Masken tragen, um geliebt zu werden. Oder es glaubt, es sei verantwortlich für das Wohlbefinden der Mutter. Beide Wege führen in Leere – in Anpassung oder Rebellion.
Doch eine Mutter, die ihr eigenes Haus pflegt, lebt etwas anderes vor.
Sie zeigt: Es ist möglich, das eigene Feuer zu hüten, die eigenen Fenster zu öffnen, den eigenen Garten zu achten. So schreibt sie eine gesunde Landkarte in die Köpfe ihrer Kinder, nicht durch Belehrung, sondern durch Sein.
Sie spiegelt, nicht um zu korrigieren, sondern damit ein Kind sich selbst erkennt.
Sie hält Raum, nicht um zu kontrollieren, sondern um Vertrauen atmen zu lassen.
Denn Raum ist es, was uns alle gesund hält und wachsen lässt. Kontrolle macht krank. Kontrolle hält klein.
Darum sage ich meinen Jungs nicht: „Passt auf euch auf!“ als ob hinter jedem Busch ein Tiger lauern würde. Das wäre die Sprache der Angst. Die Sprache der Kontrolle.
Ich sage: „Habt Spass!“ und meine: Seid mutig. Lebt. Probiert neue Wege. Folgt eurem inneren Kompass. Euch gehört die Welt.
Und während ich das sage, hülle ich sie in Gold- und Silberstaub. Ich sehe sie heil. Ich sehe sie frei.
Denn Kinder gehören dir nicht. Sie kommen durch dich, aber sie sind nicht dein Besitz. Nicht dein zweites Leben. Du kannst sie lieben, aber nicht formen. Du kannst sie begleiten, aber ihr Kompass ist nicht dein Kompass.
Sie tragen eine eigene Seele in sich. Ein Morgen, den du nicht kennst. Ein Haus, in das du vielleicht nie eingeladen wirst.
Wenn du sie wirklich liebst, wirst du nicht lenken, sondern erinnern.
Nicht biegen, sondern atmen lassen.
Nicht klammern, sondern loslassen – so weit, wie ihr Flug es will.
Denn Kinder brauchen keine Mutter, die ihnen das Fliegen abnimmt.
Sie brauchen eine Mutter, die steht.
Die ganz ist.
Die leuchtet.
Dann wissen sie:
Egal, wohin mein Weg mich trägt, da ist ein Haus. Ein Zuhause ohne Schlüssel. Ein Ort, der bleibt.
Vielleicht liest du dies und erinnerst dich:
Du bist nicht das Netz.
Du bist das Haus.
Wenn du dich erinnern willst, begleite ich dich. Nicht um dich zu reparieren, sondern um dich an dein eigenes Leuchten zu erinnern.
– Elisa Suter